Havel schreibt den »Versuch, in der Wahrheit zu leben« im letzten Jahrzehnt des tschechoslowakischen Sozialismus. Er bezeichnet die alt gewordenen Diktaturen des Ostblocks als »post-totalitäre« Systeme und meint damit, dass nicht einzelne Personen oder Gruppen diktatorisch (»totalitär«) Macht ausüben, sondern dass die eigentlich Macht in der Ideologie liegt. Auch die Mächtigen des Systems sind nicht aus sich selbst heraus oder qua Position mächtig, sondern nur weil und solange wie sie als ausführendes Organ der Ideologie wirken.

Nun ist (oder war) aber die Ideologie des Ostblocks ein von der Realität ziemlich abgehobenes künstliches Konstrukt. Das führte dazu, dass wer sich der Ideologie unterwarf, sich in eine Scheinwelt begeben musste, in der die Dinge immer gerade ein kleines bisschen anders als in der wirklichen Wirklichkeit waren. Ursachen und Bedeutungen und vor allem: Die daraus sich ergebenden Handlungsnotwendigkeiten waren andere als in der wirklichen Welt. Wer im Sozialismus bestehen wollte, musste sich seiner Ideologie unterwerfen und – wenigstens scheinbar – in der wundersamen Welt des Scheins leben. Die ideologisch bestimmte Sicht auf die Welt, das Leben und die Wahrheit musste man wenigstens äußerlich und oberflächlich »als wahr« anerkennen. Es musste keine echte oder gar Herzensliebe sein und es durfte durchaus offensichtlich sein, dass man hier nur den äußeren Schein aufrecht erhielt, wichtig war nur, dass man nicht offen rebellierte und dass man seine tatsächlichen Handlungen dem Diktat der Ideologie unterwarf.

Havel proklamiert also als wesentliches Erkennungsmerkmal der »post-totalitären Diktatur« den Gegensatz zwischen der Welt des Scheins einerseits und der Welt der Wahrheit andererseits. Die Welt der Wahrheit steht der Welt des Scheins gegenüber. Die Welt der Wahrheit ist eine durch nichts verstellte Sicht auf die Dinge, wie sie wirklich und wahrhaftig sind. Nur in dieser Welt ist der Mensch frei und kann ganz zu sich selbst kommen, so Havel. Es gebe zwar die Möglichkeit, beide Welten parallel zu bedienen, allerdings entwickeln auch beide Welten eine Eigendynamik, die zu überraschenden Ergebnissen und Aktionen führen kann, wenn die verschiedenen Welten aufeinander treffen.

Das, sagt Havel, ist das Kennzeichen echter Freiheit: Nicht ein offener Aufstand oder auch nur die explizite Negierung einer Ideologie oder eines Regimes, sondern einfach die Dinge beim Namen nennen und das tun, was vernünftig ist. Ein Leben in der Wahrheit eben. Das sei schwierig, wenn alle Anderen in einer ganz anderen Welt leben, aber es befreie nicht nur perspektivisch die Gesellschaft, sondern immer auch den Menschen selbst.

Man kann gegen Havel wenig einwenden – er hat ja tatsächlich entscheidend zur Befreiung einer Gesellschaft beigetragen. Allerdings ist sein dichotomer Freiheitsbegriff schon etwas holzschnittartig. Es ist mittlerweile auch im Westen bekannt, wie bizarr manche Auswüchse der sozialistischen Welt des Scheins waren. Das nimmt allerdings nicht weg, dass auch der Westen in einer (anders gearteten) Scheinwelt lebt, dass auch unsere Welt nicht durch Abwesenheit, sondern nur durch Andersartigkeit von Ideologie gekennzeichnet ist.