Der demokratische Rechtsstaat ermöglicht allen Bürger*innen Partizipation und damit Mit-Gestaltung ihres Gemeinwesens. Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen werden so gewaltlos und produktiv gelöst.

Falsch!, sagt Agnoli. Das sei vielleicht der ursprüngliche Anspruch der Demokratie, der aber schon lange nicht mehr erfüllt werde. Er beschreibt die Entwicklung bzw. Transformation der Demokratie als »Involution« und meint damit das Gegenteil von »Evolution«. Will sagen: Die Demokratie entwickele sich nicht vorwärts, entfalte nicht immer mehr ihr inhärentes Potenzial, sondern sie schrumpfe in sich zusammen und werde immer schwächer. Dies geschehe im Wesentlichen nicht durch Verfassungsänderungen (obwohl auch die eine Rolle spielen können), sonder vor allem durch ein Kapern demokratischer Institutionen durch Interessengruppen, die qua materialer Macht immer schon die Geschicke des Staatswesens beeinflusst haben. Es etabliert sich in den Institutionen ein Konsens dessen, was gesagt und was nicht gesagt werden darf, und die Spielräume demokratischer Gestaltung reduzieren sich auf die Ausfüllung dieses Konsens.

 

Auch neue Parteien und Gruppen, die sich »an die Spielregeln« halten, beschnitten dadurch ihre Aktionsmöglichkeiten und schlössen eine wirkliche Verbesserung der Gesellschaft im Sinne der Massen – Agnoli denkt in Begriffen des Klassenkamps – aus. Die Selbstbeschränkung der Demokrat*innen auf den Verfassungsrahmen (genauer: auf eine konsensuale, aber dem Mehrheitsinteresse zuwiderlaufende Auslegung der Verfassung) simuliere Opposition und Veränderung und fungiere so als Ventil, um Unzufriedenheit in harmlose, dem System nicht schädliche Pfade zu kanalisieren.

Wirkliche Veränderung sei nur über den Weg der Fundamentalopposition möglich, die radikale Ablehnung des Konsens, die Verweigerung der Mitarbeit in den demokratischen, den Horizont des Sag- und Denkbaren einschränkenden Institutionen.

Agnolis Ausführungen sind aus heutiger Perspektive fast schon evident. »Politisierung« ist eigentlich nur Scheinpolitisierung, die Simulation des politischen Kampfes, der doch immer vor dem wirklich Entscheidenden halt macht. Was er höchstens am Rande streift ist, dass selbst das Scheinpolitische immer weniger Menschen anspricht. NIcht nur werden politische Aspirationen in dem System ungefährliche Bahnen kanalisiert, es wird auch immer mehr überhaupt jedes Moment von Interesse, Unzufriedenheit, Engagement, Veränderungswille in die apolitischen Bahnen der Medien- und Konsumwelt abgeleitet.

Der Ausgabe von Agnolis Transformation beigegeben ist u.a. ein Text, in dem er »20 Jahre später« seine Untersuchung aus den 60erjahren (nicht ohne Eitelkeit) im Lichte der damals aktuellen Entwicklungen beleuchtet. Damals war vor allem dr Einzug der Grünen in den Bundestag ein bemerkenswertes Phänomen. Und schon damals konnte man sagen, was heute völlig unübersehbar ist: Die Grünen haben sich in den Verfassungsrahmen eingefügt, haben vieles verändert und bewirkt (zu denken wäre an die Rechte von Frauen, von Homosexuellen, an eine allgemein offenere, hoffentlich vorurteilsfreiere Gesellschaft), ohne aber das System kapitalistischer Verwertbarkeitszwänge auch nur anzukratzen. Ganz im Gegenteil haben sie es durch Beheben kleinerer Ungereichtigkeiten (s. oben) »gefühlt« angenehmer gemacht und so stabilisiert. Ihre Mitverantwortung für Hartz und ähnliche Grausamkeiten ist in diesem Licht betrachtet kein Betriebsunfall oder Kompromiss, sondern der ultimative Beweis der Übermacht der kapitalistischen Zurichtung der demokratischen Institutionen.

Agnoli schrieb in den 60ern, einer Zeit des Aufbruchs und des demokratischen Optimismus, eine bessere Welt ermöglichen zu können. Diesen Optimismus hat er mit seiner Schrift schon sehr früh, noch vor Ausbruch der so genannten Studentenrevolte, ordentlich eingestampft. Heute sind die Zeiten andere, selbst hartgesottene Linke hegen kaum realistische Hoffnung auf einen baldigen Wechsel hin zu einem menschenfreundlicheren System. Wenn überhaupt Veränderungen erwartbar sind, dann eher zum noch schlimmeren, nämlich zu einer Zunahme nationalistischer und rassistischer Ressentiments. Auch diese wären allerdings dem systemleitenden Kapitalinteresse ganz überwiegend zuwiderlaufend. Mit Agnoli dürfen wir ein kleines bisschen hoffen, dass afd und co sich in den Parlamenten ganz genau wie einst die grüne Partei sehr rasch in die Grenzen des Sag- und Denkbaren einfügen werden. Übrig bliebe dann vielleicht ein hässliches Abbild der CDU bzw. das, was die CDU vor 50 Jahren sowieso schon war.

Die ewige Wiederkehr des Gleichen kann auch beruhigend sein.