Streeck ist Soziologe mit offenkundigem Interesse an Wirtschaftsthemen. Als guter Marxist hat er die These von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verinnerlicht, ist aber mit der Tatsache konfrontiert, dass der Kapitalismus bislang alle Krisen irgendwie meistern konnte.

Seine Antwort auf diese scheinbare Widerlegung Marxens ist das titelgebende Konzept der »Gekauften Zeit«: Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit der (anfangs sehr kleine) ökonomische Kuchen so schnell wuchs, dass Wachstum und Wohlstandszuwachs die Interessen sowohl der Lohn- als auch der Renditeabhängigen befriedigen konnten, war dies spätestens in den 70erjahren nicht mehr der Fall. Da ein Profitverzicht des Kapitals nicht vorstellbar war, mussten der Arbeitnehmer*innen-Anteil am Profitkuchen, wenigstens an dessen Wachstum, geschmälert werden. Dies hätte allerdings deren Zufriedenheit und damit langfristig die Stabilität des System gefährdet. Zwar stand nicht der Kapitalismus selber zur Disposition, aber über kurz oder lang wären Kapitalismus und Demokratie nicht mehr miteinander vereinbar gewesen. Die Industriestaaten griffen daher nacheinander zu einer Reihe von Tricks, um den ökonomischen Abstieg der Lohnabhängigen zu verzögern oder wenigstens zu verschleiern, um sich also Zeit zu kaufen.

 

Zunächst, so Streeck, ermöglichte eine erhöhte Inflation einen nominellen Anstieg der Löhne, ohne dass dies einen dauerhaften, echten Zuwachs an Kaufkraft mit sich gebracht hätte. Das ständige Drehen an der Inflationsspirale schadete allerdings auch der Wirtschaft und war daher für diese auf längere Sicht nicht akzeptabel; man griff also zur nächsten Strategie: Die ab den 80erjahren explodierende Staatsverschuldung ermöglichte es den Staaten, mittelbar durch Investitionen und Aufblähen des Staatsapparats sowie unmittelbar durch Sozialmaßnahme den Abstieg weiter Bevölkerungsschichten zu vermeiden. Es galt allerdings das gleiche, was schon für die Inflation galt: Auf Dauer war diese Strategie nicht durchzuhalten, weil eine hohe Staatsverschuldung aus Sicht des Kapitals nur solange eine willkommene Anlagemöglichkeit darstellt, wie die Staaten als kreditwürdig galten. Das war schon recht bald nicht mehr der Fall, es wurde eine Wende Richtung Austeritätspolitik eingeleitet. Das beruhigte die Kapitalgeber, hätte aber natürlich zum wirtschaftlichen Absturz der Bevölkerung geführt. Dritter und (bislang) letzter Trick der Zeitkäufer*innen war nach Streeck die Lockerung der Kreditvergabe an Privatpersonen bei gleichzeitiger Privatisierung staatlicher Vorsorgefunktionen. Es konnte weiter auf Pump gelebt werden, nunmehr gingen aber nicht mehr Staaten, sondern deren Bürger*innen in die roten Zahlen. Auch das ging nicht ewig gut, und die private Überschuldungskrise, bekanntgeworden als Bankenkrise von 2008, verband sich in unguter Weise mit der trotz Austeritätspolitik immer noch sehr hohen Staatsverschuldung sowie den Forderungen der Austeritätspolitik.

Streeck sieht mit den Verwerfungen der Bankenkrise ein zumindest vorläufiges Ende der gekauften Zeit gekommen. Es ist allerdings die Frage, wie es jetzt weitergeht. In Übereinstimmung mit Agnoli ist er der Auffassung, dass die Demokratie mittlerweile so weit ausgehöhlt ist, dass Staaten inzwischen auch an den echten Interessen der Bevölkerungsmehrheit vorbei agieren können – der Augenschein gibt ihm Recht.

Eine andere Frage ist natürlich, was Streeck sich wünschen würde. Hier ist er recht deutlich, nämlich: Eine Rückkehr zum Nationalstaat, der allein Legitimation und Macht habe, die nötigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu treffen. Die Internationalisierung der Wirtschaftspolitik, die Globalisierung also, hält er für ein abgekartetes Spiel, um die einzigen demokratisch legitimierten, seiner Ansicht nach sogar die einzig demokratisch legitimierbaren Einheiten, die Nationalstaaten, zugunsten supranationaler Institutionen, Vereinbarungen und Verträge auszuschalten.
Das ist ein etwas enttäuschendes Ende seines Buches – bei aller berechtigten Kritik z.B. am Demokratiedefizit der EU, gibt er den Traum eines geeinten und demokratischen Europas doch etwas sehr locker auf, ohne wirklich überzeugende Gründe dafür zu nennen. Sein Hauptargument dass man kaum darauf hoffen dürfe, dass z.B. Deutsche mit Italiener*innen solidarisch sein werden, wenn schon Ost- und Westdeutsche oder Nord- und Süditaliener*innen das nicht schaffen lässt sich jedenfalls locker ins Gegenteil verkehren. Wenn es Rheinländer*innen und Westfäl*innen oder Kölner*innen und Düsseldorfer*innen schaffen – warum soll es dann nicht auch Kroat*innen und Dän*innen gelingen?
Vielleicht haben wir hier einen weiteren Fall von guter Analyse und schlechtem Lösungsvorschlag. Schade eigentlich.