Bernd Schoepe ist Lehrer in Hamburg und interessiert sich, so der Subtitel seiner Schrift, für "Datenschutzrechtliche Probleme der Coronakrisen-induzierten 'Digitalisierungsoffensive'". Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist die eigentlich recht simple Frage: Welche Vorteile bringt die Digitalisierung der Schulen? Seine Antwort lautet: Nach Datenlage (z.B. Hattie) bringt sie fast gar keinen (zusätzlichen) Lernzuwachs, sie verstärkt die soziale Spaltung eher noch anstatt sie, wie einst erhofft, zu verringern, und kostet dabei sehr viel Geld, mit dem andere, erprobte Möglichkeiten zur Verbesserung von Bildung finanziert werden könnten.

Aus dieser Antwort ergibt sich zwingend die nächste Frage, nämlich: Warum dann wird die Digitalisierung trotz der enormen Kosten und der minimalen Erfolge so vehement vorangetrieben? Auf diese Anschlussfrage gäbe es eigentlich eine kurze, von Schoepe nicht behandelte (Doppel-)Antwort, mit der das Thema erledigt sein könnte: 1.) Wurde die Digitalisierung an deutschen Schulen jahrzehntelang gerade nicht vorangetrieben, sondern im Gegenteil sträflich vernachlässigt. Und 2.) muss man zugeben, dass in Zeiten der Coronapandemie die digitale Ausrüstung der Schulen (von »Aufrüstung« mag ich nicht reden) der einzige praktikable Weg war, überhaupt so etwas wie eine Simulation von Unterricht und, wichtiger noch, wenigstens rudimentären Kontakt zu den Schüler*innen aufrecht zu erhalten. Dass die enormen Investitionen in die Digitalisierung also gerade während der Pandemie erfolgen, macht durchaus Sinn und könnte die Fragestellung im Zentrum von Schoepes Untersuchung recht flott jeder Relevanz berauben.

 

Könnte.

Denn auch wenn die Digitalisierung erst durch die Pandemie so richtig in Gang gekommen ist, muss man doch festhalten, dass sie so langfristig gedacht und angelegt ist, dass sie mit Ende der Pandemie ganz gewiss nicht eingestampft und beendet sein wird. Und auch wenn die Notwendigkeit der digitalen Ausstattung von Schulen meines Erachtens nicht ernsthaft in Frage gestellt werdne kann, muss die Art und Weise, wie dies geschehen ist und immer noch geschieht im Gegenteil sehr kritisch hinterfragt werden. Es gibt viele relevante Gruppen mit vielen widersprüchlichen Interessen − regelmäßig sogar innerhalb derselben Gruppe. Schoepes Untersuchung ist also durchaus nicht irrelevant, auch wenn die Ausgangsfrage etwas an der Sache vorbeigeht.

Fangen wir an mit der Gruppe der Softwarekonzerne (zu diesen gehört übrigens auch Apple: die Geräte kommen mit einem ganzen Universum an Software, das dem von Google kaum nachsteht). Die Konzerne möchten natürlich möglichst viel und möglichst teuer verkaufen, und das ist ein nachvollziehbares und berechtigtes Interesse. Die Schule hat allerdings ein Interesse an einem effizienten Einsatz der begrenzten Ressourcen und muss abwägen, was sie wirklich benötigt.

Zum Geldpreis kommt noch der Preis in Daten hinzu: Fast alle eingesetzten Softwareprodukte (z.B. Microsoft Office 365, Google Classroom, Apple Teacher) erheben und speichern Daten über die Nutzer*innen, die die Konzernen anschließend zur »Produktverbesserung« und andere, ähnlich vage  Zwecke einsetzen möchten. Das ist vermutlich nicht legal, und wir müssen uns darauf verlassen, dass die Konzerne selber diese Daten nicht missbrauchen, dass sie sie außerdem so absichern, dass sie nicht versehentlich in unberechtigte Hände gelanden und dann missbraucht werden. Die Erfahrung legt hier eine größtmögliche Skepsis nahe.

Auch wenn es auf den ersten Blick übertrieben klingt, den bei der Nutzung von Software anfallenden personenbezogenen Daten eine so große Bedeutung zuzumessen: Der Begriff vom »Rohstoff Daten«, an dem angeblich das Schicksal der Wirtschaft hängt, ist in aller Munde. Wenn es aber um die konkreten Daten geht, die bereits heute abgegriffen, gespeichert und ausgewertet werden, nimmt man den Wert dieser Daten plötzlich nicht mehr ernst und amüsiert sich köstlich über die bizarre Vorstellung, die CIA könne sich für die »streng geheimen« Hausaufgaben der 6c interessieren. In der Tat: die Türkei von Erdogan interessiert sich für Facebookeinträge und sperrt Menschen auf Basis geteilter und gelikter Kurznachrichten hinter Gitter. Auch die Geheimdienste der USA könnten durchaus ein Interesse an manchen Hausaufgaben von Schüler*innen haben, die z.B. ein Visum für die USA beantragen. Und im Gegensatz zur Türkei kommen sie mit Leichtigkeit an diese Daten heran. Die größere Gefahr geht aber sicher von Konzernen aus, die einfach so viel wie möglich − also alles − von Kund*innen und potenziellen Kund*innen wissen möchten. Vielleicht nicht die Antwort auf die Aufgabe »2+3*4«, aber durchaus Informationen über Arbeitsverhalten, Arbeitszeiten, Schulbildung usw. Und einmal erhobene Daten sind meist für immer in der Welt. Alles, was Microsoft oder Google von mir wissen, können sie mehr oder weniger beliebig verwenden, auch zu meinem Nachteil. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen oder übermorgen, wenn die gesetzlichen und technischen Möglichkeiten sicher ganz andere sein werden. Und wenn die Datensammler*innen selber die Daten nicht gegen mich verwenden, dann vielleicht eines der großen Werbenetzwerke, die Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführen. Und wenn nicht die, dann gilt immer noch: Daten, die vorhanden sind, können irgendwann durch Fehlkonfiguration, menschliches Versagen oder kriminelles Handeln an die Öffentlichkeit kommen. Das ist keine graue Theorie, sondern regelmäßige bittere Erfahrung, die man leicht ergoogeln kann, z.B. »google Datenleck« oder »Microsoft Datenleck«. Apple liefert hier weniger Ergebnisse − ob das an der zweifellos höheren Sicherheit oder nicht auch ein bisschen an kluger Suchmaschinenoptimierung liegt, sei mal dahingestellt.

In Antwort auf die Frage, warum trotz hoher (finanzieller und informationeller Kosten) so eifrig digitalisiert wird, konstatiert Schoepe eine grundlegende und lang anhaltende Entdemokratisierung der Schule, die darin gesellschaftlichen Trends folgt. In der Tat werden selbst kodifizierte Mitbestimmungsrechte bei der Einführung digitaler Systeme oft schlicht ignoriert, eine echte Diskussion mit gemeinsamer Beschlussfassung findet erst recht nicht statt. Sie wird aber vielfach auch gar nicht eingefordert. Das Demokratiedefizit ist einerseit Voraussetzung für die Einführung datenhungriger Systeme »von oben«, es wird andererseits durch diese Einführung weiter verschärft, indem es zu Vereinzelung der Lehrer*innen, Kontrolle und Kontrolldruck, Festlegung (und erneut: Kontrolle) der Arbeitsweise führt und den Focus von entscheidungsleitenden Theorien und Experimentierfreude hin zu oberflächlich zähl- und messbaren »Ergebnissen« führt.

Schoepes Text weist einige Brüche auf: Er enthält sehr grundsätzliche und z.T. sehr gut durchdachte Passagen. Er enthält darüber hinaus auch Konkretisiserungen und Zuspitzungen, v.a. auf die Einführung von Office365 an seiner Hamburger Schule. Gerade diesen Passagen merkt man häufig an, dass sie aus einem Gefühl der Wut und Hilflosigkeit heraus geschrieben wurden, was einen etwas unguten Beigeschmack hinterlässt. Es gibt auch einige fragwürdige Ideen, die einen großen gesellschaftsverändernden Plan hinter der Digitalisierung unterstellen und fast schon verschwörungstheoretisch sind. Ich selber bin hingegen überzeugt, dass es ein konzertiertes Vorgehen von Politik, Software-Konzernen und Schulleitungen nur in sehr geringem Maße gibt, dass aber alle Beteiligten gnadenlos den kurzfristigen eigenen Vorteil suchen und dabei die erheblichen Risiken für Datensicherheit und Souveränität über die eigene Arbeit ausblenden. Sicher spielen hier öffentlicher Druck und Unkenntnis, aber auch eine gehörige Portion Egoismus eine Rolle. Letzlich ist aber auch egal, wie wir in den gegenwärtigen Schlammassel hineingeraten sind − in der Analyse der Situation ist Schoepe in jedem Fall zuzustimmen, die Analyse der Ursachen ist da zweitrangig.

Der Text ist offenbar im digitalen Selbstverlag erschienen und z.B. bei der GEW Ansbach als PDF kostenfrei downloadbar. Was dem Text leider fehlt, ist eine gründliche Redaktion, die neben den bereits erwähnten Ausbrüchen von Wut und Hilflosigkeit auch einige sehr komplex mäandernde und nicht immer ins grammatische Ziel treffende Satzgebilde hätte begradigen können.

Stilistisch hat der Text also gewisse Schwächen. Als Fakten- und Argumentesammlung ist er eine echte Bereicherung für die Debatte über Digitalisierung an Schulen.