Harry Mulisch gilt heute als einer der ganz großen alten, weißen, Männer der niederländischen Literatur. Bei seinem Tod 2010 war er nicht nur literarischer Gottkönig, sondern auch Träger des Bundesverdienstkreuzes.

Bei so viel Staatsträgerei vergisst es sich leicht, dass er in den 60erjahren (und noch einige Zeit danach) ganz und gar nicht staatsnah war, sondern ein – wenngleich distanzierter – Anhänger der Provo-Bewegung war. Provo war ein bisschen wie 68er in Deutschland bzw. wie Student:innenrevolte in Paris, aber natürlich ein, zwei Nummern kleiner, dafür aber etwas früher und mit einem ordentlichen Schuss DaDa vermischt. Mulisch beschreibt in seinem Bericht an den Rattenkönig die Ereignisse von 1965/66 in Amsterdam. Er war seinerzeit Journalist für verschiedene Zeitschriften und auch Mitverleger im linken Verlag de bezige bij. Der bericht aan de rattenkoning ist betont subjektiv und episodisch und spiegelt damit vermutlich schlicht die Tatsache, dass Mulisch einigen der Ereignisse dieses Jahres persönlich beiwohnte, von anderen nur aus Hörensagen wusste und vielleicht auch nicht immer richtig einschätzen konnte, was wo passieren würde. Er kokettiert einerseits mit seiner Nähe zur Bewegung, mit einem Wissen um Personen, Inhalte und Bedingungen der Bewegung, das ihn zu einem Eingeweihten und somit besonders zuverlässigen Berichterstatter machte. Andererseits merkt man seinen Berichten aber auch an, dass er nicht so ganz dazugehörte, vermutlich wegen seines etwas besserwisserischen Auftretens und seiner Abneigung sich überhaupt irgendeiner Bewegung ein- oder einer Idee unterzuordnen. Vielleicht aber auch, weil er sich den Zielen der Bewegung nur teilweise anschließen konnte bzw.: Weil die Bewegung eigentlich gar keine echten Ziele hatte, außer die Absurdität der schwer konservativen und kleinbürgerlichen niederländischen Gesellschaft der 60er aufzuzeigen und zu durchbrechen.

Mulisch hingegen geht es um das Thema Herrschaft bzw. staatliche Gewalt. In bester 68er-Manier ist er natürlich gegen jede Form staatlicher Herrschaft und weist auch (im Nachhinein, versteht sich,) detailliert nach, dass die Amsterdamer Polizei selbstverschuldet und allein aus eigener Dummheit und Unfähigkeit sich in den Jahren 65/66 in eine missliche Situation manövrierte, in der die Arroganz und Brutalität und Engstirnigkeit staatlicher Gewalt für alle offenbar wurde. Und die Dummheit von Staat und Polizei, versteht sich.

Aus heutiger Sicht, auch schon aus Sicht der 80erjahre, macht es sich Mulisch vielleicht ein bisschen bequem: Mit der Nähe zu den Provos kokettieren, aber sich doch eine sichere Existenz in der etablierten Literaturwelt suchen. Die Vorzüge des Betriebes genießen, dabei aber sich als über den Wolken schwebende unabhängige Instanz gerieren.

Man könnte auch freundlicher formulieren: Er ist ein Brückenbauer zwischen zwei Welten, wenn auch die Brücke wohl nur eine Einbahnstraße ist, die den bürgerlichen Literaturkonsument:innen Einblicke in die Welt der Provos – quasi (!) – ersterhand liefert.

Herausgekommen ist jedenfalls ein amüsant lesbares Tagebuch, das als klassisches Zeitdokument gelten darf.