Es könnte mittlerweile schon fast 50 Jahre her sein, dass ich das dicke Buch mit dem dunkelroten Schutzeinband, darauf eine leere Straße mit Straßenbahngleisen, zuerst im elterlichen Bücherregal sah. Es stand irgendwie günstig und zog meinen Blick immer wieder auf sich - ohne dass ich es je gelesen hätte. Zunächst, weil ich gar nicht lesen konnte, dann, weil man mir (zu Recht) sagte, das sei eher kein Buch für Kinder und dann, weil man als aufstrebender Teenie wirklich besseres zu tun hatte, als verstaubte Wälzer aus dem elterlichen Regal zu lesen.
Jahrzehnte später durfte ich - das eigene Bücherregal ist leider rappelvoll - nur sehr, sehr wenig aus dem gedruckten Erbe meines Vaters übernehmen. Die "5 Tage im Juni" gehörten dazu. Endlich habe ich sie gelesen und bin im Wesentlichen begeistert. Die "ehrliche Auseinandersetzung eines DDR-Bürgers mit den Ereignissen um den 17. Juni 1953" entführen mehrfach in die Vergangenheit: meine eigene, in den 70ern, als das Buch erschien und vermutlich auch gekauft wurde, und in die 50er, lange vor meiner Geburt.
Heym ist ein routinierter und handwerklich geschickter Autor. Sein Roman ist milde modern, die Figur der Gudrun Kasischke spricht fast ausschließlich in inneren Monologen zu sich selbst - aber hübsch sortiert nach Themengebieten. Die Darstellung der übrigen Figuren und Handlungen ist konventionell, aber dadurch ja nicht schlecht.
Im Mittelpunkt des Buches steht Witte, Gewerkschaftssekretär im VEB Merkur. Witte ist zu gut, um wahr zu sein: Überzeugter Sozialist, aber ganz bei den Arbeiter*innen. Mitglied der Partei, also der SED, aber durchaus kritisch. Hat eine lange aktive Geschichte als Kämpfer für Arbeiter*innenrechte hinter sich, hat aber Fehler der Partei immer klar benannt. So auch in der Frage der Normerhöhungen, letztlich also Lohnsenkungen, die die SED 1953 beschloss und die zum Ausgangspunkt der Aufstände am 17. Juni wurden. Witte hält sie für einen Fehler und möchte sie auch nicht vor den Beschäftigten verteidigen. Die Partei beschließt daraufhin seine Abberufung, schon am folgenden Tag aber muss der VEB ihn in alter Funktion wieder aufnehmen, weil kein anderer bereit und fähig ist, sich den aufständischen Arbeiter*innen im Betrieb zu stellen.
Wittes Gegenspieler ist der Arbeiter Kallmann, der immer wieder betont, er habe unter dem Kaiser, unter Hitler und jetzt auch unter Ulbricht immer nur seine Pflicht getan. In die Ereignisse rund um den 17. Juni wird er mehr so hineingezogen. Er möchte, wie Witte, die Normerhöhungen rückgängig gemacht sehen, aber im Gegensatz zu Witte fehlt es ihm an klarem Klassenbewusstsein und er ist naiv gegenüber den Feinden der DDR und der Arbeiter- und Bauernregierung. Und so wird er von dunklen Personen aus Westberlin instrumentalisiert in einem politischen Geschehen, das er nicht mehr überblickt und in dem es schließlich um die Machtfrage geht.
Heym schildert Kallmann ihn als "Musterbild des ehrlichen, etwas hilflosen Arbeiters" - das stimmt, und das markiert schon einen der Kritikpunkte am Roman. Die Charaktere sind sehr statisch. Sie werden zwar häufig bis ins Detail gezeichnet, ihre innere Haltung (insbesondere die der überzeugten Sozialist*innen) ist auch keineswegs immer eindeutig und widerspruchslos, aber eine innere Entwicklung, ein Verstehen, ein Wachsen und ein klüger-werden gibt es nicht. Jede*r bleibt so, wie er oder sie ist. Die Charaktere sind häufig auch eher Typen, und vor allem Charaktere, die im Westen angesiedelt sind, sind in aller Regel sehr unsympathische, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Typen. Die Darstellung ist also in gewisser Weise einseitig.
Man merkt dem Text immer noch an, dass Heym ihn ursprünglich für eine Publikation in der DDR vorgesehen hatte, ihn also im Bewusstsein der vor Veröffentlichung zu meisternden Hürde staatlicher Zensur verfasst hat. Diese Hürde hat der Text nicht genommen, die 5 Tage im Juni konnten erst ganz am Ende der DDR, 1989, dort erscheinen. Im Westen veröffentlichte Bertelsmann das Buch immerhin schon 1974, auch das runde 20 Jahre nach Fertigstellung der Erstfassung. Es heißt, Heym habe den Text für die Veröffentlichung im Westen mehrfach umgearbeitet, man darf annehmen, dass die Darstellung der DDR und der SED vor diesem Prozess eher noch unkritischer war als in der vorliegenden Endfassung. Für diese muss man sagen: Die echten Sozialist*innen kommen gut weg, und die Einmischung aus dem Westen wird als das eigentliche Momentum der Aufstände dargestellt, während die (auch von Heym) unbestrittenen Fehler der SED eher eine Nebenrolle spielen. Historisch wahr ist wohl eher das Gegenteil.
Die Historiker*innen unter meinen Studibekanntschaften hatten den schönen Spruch von der Augenzeuge, die der ärgste Feind der Historiker*in sei. Für fiktionale Werke, in denen Leser*innen oder Zusxchauer*innen in histotische Ereignisse eintauchen, gilt das selbe in noch verschärfter Form. Geschichte reduziert sich auf eine einzige, partikulare und notwendig einseitige Perspektive. Diese Perspektive wirkt alternativlos, weil sie durch lebhafte Darstellung besonders authentisch scheint - während sie in Wahrheit nicht nur zufällig, sondern bewusst und zielgerichtet ausgewählt und anschließend weiter zugespitzt, dramatisiert, häufig auch um explizit unhistorische, aber "zielführende" Elemente ergänzt wurde. Auch die 5 Tage im Juni sind also keine Empfehlung, um die Geschichte des 17. Juni zu erarbeiten. Sie sind aber eine Empfehlung, um die Wirkungsgeschichte des 17. Juni zu erarbeiten. Und sie sind auch ein weit offenes Fenster in die Seele von Heym, der mit Kritik am Sozialismus nie sparte, aber auch die Frage stellte: "Was wäre denn die Alternative?"